Zweiter Weihnachtsfeiertag 2022 Matthiaskirche Gedanken zu Matthäus 1, 1-17

Am zweiten Weihnachtstag

holte meine Mutter das alte Familienalbum aus dem Schrank.

Sie zündete die Kerzen am Christbaum noch einmal an,

fing an zu blättern, fing an zu erzählen. Ihre Finger strichen

über wunderbar erhaltene Schwarzweißaufnahmen mit weiß gezacktem Rand:

Die Urgroßmutter, umgeben von einer geputzten Kinderschar, photographiert zum Fest.

Der Urgroßvater in Uniform – das letzte Bild, ehe er an die Front musste.

Meine Mutter wendete vorsichtig die Trennblätter aus knisterndem Transparent

und erzählte im Schein der Kerzen:

Wo kommen wir alle her? Was ist unsere Familiengeschichte?

Was müsst ihr wissen über diesen Onkel und jene Tante?

 

Am zweiten Weihnachtstag holt die Predigtordnung Matthäus aus dem Schrank.

Sie schlägt das erste Evangelium auf, auf der allerersten Seite -

ein wirklich festlicher Moment! Und ich lese:

Dies ist die Geschichte Jesu Christi. Griechisch: die Genesis Jesu Christi.

Sein Ursprung, sein Stammbuch, seine Wurzeln. Darum wird es gehen.

Meine Finger ruhen einen Moment auf dieser schönen Überschrift:

die Genesis Jesu Christi!

Matthäus war ein jüdischer Christ und ein sehr kühner Kopf.

Mit seinen ersten Worten griff er zurück auf das erste Buch,

die allerersten Worte der Hebräischen Bibel.

1, Mose 1: Dies ist die Genesis von Himmel und Erde.

Das ist der hohe Bogen über Matthäus Weihnachtsbuch:

Jesus Christus ist der Sohn dessen, der Himmel und Erde gemacht hat.

 

Dann wird Matthäus genauer:

Dies ist die Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.

Das ist nun Erbe und Programm des Messias, liebe Weihnachtsgemeinde.

„O komm, du Sohn aus Davids Stamm, du Friedensbringer, Osterlamm…“

summt es in meinem Geist.

Jesus Christus ist zuallererst der Sohn Davids, des Hirten und Königs in Israel,

des Hoffnungsträgers für Frieden und Gerechtigkeit.

Das wird Matthäus in seinem Evangelium bis zur letzten Seite entfalten.

Und dann noch einen Schritt zurück:

der Sohn Abrahams, der aufbrach, ein Segen für die Völker zu werden.

Nichts weniger hofft und behauptet der erste Evangelist ,

als dass Christus die Mission Abrahams ans Ziel führt.

 

Ich schaue ein letztes Mal auf das Schmuckblatt, auf das Deckblatt des Matthäusevangeliums und blättere vorsichtig um.

Die Genesis des Christuskindes ist tief eingebettet in die Geschichte Israels

und nur von dort zu verstehen und niemals daraus zu lösen.

 

Die zweite, die dritte, die vierte Seite des Weihnachtsbuchs sind im besten Falle fremd:

„Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder.

Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron und Hezron Ram.“

Ich überblättere einige Familienphotos.

In drei mal 14 Generationen lässt Matthäus die Geschichte Israels auf Christus zulaufen.

Mein genereller Eindruck: Die Namen werden mir immer fremder:

„Azor zeugte Zadok. Zadok zeugte Achim. Achim zeugte Eliud.“ Nie gehört -

Und mir wird klar: Als Christin weiß ich über die Geschichte Israels,

über die Genesis unseres Christus nur sehr lückenhaft Bescheid.

Eigentlich bricht mein Wissen kurz nach David ab,

spätestens mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit Israels.

Und ich begreife, Jesus stammt aus einem Volk, das die längste Zeit

unfrei, vertrieben, zerstreut lebte.

Darum vielleicht seine unbändige Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, auf Schalom.

 

Ich blättere vor und blättere zurück in Matthäus Familienalbum

und bleibe an vier kleinen Bildchen hängen.

Unter mehr als 40 männliche Konterfeis mischen sich vier weibliche. Und was für welche!

Ich stoße auf Tamars Bild, eine junge Witwe aus der sogenannten Väterzeit.

Sie verführte – als Hure verkleidet – ihren Schwiegervater Perez

und sicherte sich so Überleben und Recht. Auch eine Weihnachtsgeschichte?

Dann sehe ich Rahab, eine Frau aus der Zeit der Landnahme Israels.

Sie war eine Hure in Jericho und öffnete den Kundschaftern Israels

Tor und Tür in das Land, wo Milch und Honig fließt.

Rahab in der Genesis Jesu Christi – hochinteressant!

Ich sehe ein Bild von Ruth, einer jungen Moabiterin aus der Richterzeit.

Als Witwe begleitete sie ihre Schwiegermutter Noomi zurück nach Bethlehem.

Auf deren Rat verführte sie Boas und zwang ihn zu seinem Glück. Familiengeschichte!

Und schließlich noch die Frau des Uriah aus der Königszeit.

Ihren eigenen Namen kennen wir nicht. David beobachtete sie heimlich beim Baden.

Er stellte ihren Mann an die vorderste Front, wo er erwartungsgemäß fiel,

und nahm sich, was er wollte.

 

Tamar – Rahab – Ruth – die Frau des Uriah - Ich staune und schüttele den Kopf.

Was haben sie im Album Jesu verloren? Zwei Antwortversuche:

Alle vier waren Fremde, Fremde in Israel. Matthäus erinnert daran,

dass der Segen für die Völker schon eine Geschichte hat.

Der begann nicht erst mit Christus, wurde von ihm aber kräftig weiter betrieben.

Dann: Alle vier lebten in fraglichen Verhältnissen und alle vier kämpften um Recht.

Sie vererben dem Messias die unbändige Leidenschaft für Recht und Gerechtigkeit.

Sie machten ihn zum Bergprediger.

 

Matthäus 1 – der Stammbaum Jesu Christi -

das, liebe Gemeinde ist der neue Predigttext für den zweiten Weihnachtstag.

Ehe der Engel auftritt und Josef (ja, Josef) die unerklärliche Jungfraungeburt prophezeit,

lässt der erste Evangelist keinen Zweifel daran: Jesus war Josefs Sohn.

In seinen Adern floss das Blut Abrahams, das Blut Davids.

Er war und blieb ein Kind seines Volkes Israel. Das ist seine Genesis, sein Ursprung.

Und daran bleiben alle gebunden, die sich Christen nennen.

 

Eine kleine Erinnerung noch an das Album meiner Mutter:

Zwischen den Seiten lag auch lose ein kleines verwaschenes Bild:

Fräulein Rosenzweig aus Wuppertal, die jüdische Hebamme meines Patenonkels.

Er war stolz darauf, dass sie ihm in brauner Zeit buchstäblich das Leben rettete.

Meine Mutter wusste nicht so recht, wohin mit dem Photo, klebte es nicht fest.

Es bleibt meine persönliche Weihnachtserinnerung,

dass auch in meiner Familiegeschichte eine Frau jüdischen Glaubens aufgehoben wurde.

Gott sei Dank!

 

Ulrike Scholtheis-Wenzel

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