Gedanken zum Wochenspruch Matthäus 25, 40 b

Gottesdienst mit anschließender Umbenennung des Gemeindezentrums in Paul Schneider Haus

 

Liebe Gemeinde,

jeder Mensch hat zwei Seiten – eine Innen- und eine Außenseite.

Jeder Mensch hat zwei Seiten. Mindestens.

Das gilt auch für Paul Schneider. Und wir fangen erst an ihn kennenzulernen.

In den vergangenen Wochen, im Zusammenhang mit seinem 125. Geburtstag,

haben wir einiges über den scharfen Gegner der Nazis,

den mutigen Prediger, den Zeugen Paul Schneider gehört. Griechisch: martyros.

Heute möchte ich Euch etwas über den Pastor Paul Schneider erzählen,

den fürsorglichen Hirten und Diener. Griechisch: diakonos.

Das sind die zwei Seiten, die zu jedem Christsein gehören:

Zeugnis und Dienst, Wort und Tat.

Und beides können wir am Vorbild unserer Gemeinde gut ablesen.

Heute besonders: Paul Schneider als diakonos.

Der Bibelspruch, der uns durch die kommende Woche begleiten soll,

brachte mich auf diese Perspektive.

 

„Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Matthäus 25, 40

 

Das ist die gute Botschaft eines garstigen Gleichnisses.

Christus als Richter am Jüngsten Tag sagt den Satz zu denen,

die im Leben unwissend barmherzig waren,

die anpackten wie der Samariter im Evangelium, ohne lange zu fragen:

Bin ich das überhaupt zuständig?

„Christus spricht: Was ihr getan habt einenm von diesen meinen geringsten Brüdern,

das habt ihr mir getan.“

Das ist das Evangelium für die unwissend Barmherzigen,

aufgeschrieben um unser Gewissen und unsere Praxis rechtzeitig zu schulen.

 

Ich erzähle Euch fünf biographische Randnotizen,

die uns die diakonische Seite von Paul Schneider zeigen,

seine unbewusste Barmherzigkeit.

 

Dortmund-Hörde 1922

Paul Schneider hatte das Erste Examen hinter sich

nach acht Semestern Theologie, gedrängt in drei Jahre. So war das nach dem 1. Weltkrieg.

Gegen den Rat seines Vaters und seines Schwiegervaters in spe

bestand er auf einem „Industriepraktikum“.

Er wollte Arbeiter unter Arbeitern sein und sich genau so auf seinen Beruf vorbereiten.

Sein Onkel Robert, kaufmännischer Direktor eine Hütte, bot sich an,

ihm eine ordentliche Arbeit als Hauer zu vermitteln.

Paul Schneider lehnte ab.

Er zog in ein Ledigenheim und schuftete drei Monate

als dritter Mann am Hochofen in Hörde.

Mit 24 Jahren suchte er den unmittelbaren Kontakt zu denen,

die um ihre Existenz hart ringen mussten.

Von Hause aus konservativ setzte er sich mit sozialistischen Ideen auseinander.

Theologisch kostete ihn die Zeit manche Gewissheit.

Sein Lohn war das Abschiedswort eines Kumpels:

„Du bist einer der Unseren. Du solltest bleiben!“

 

„Christus spricht: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder,

das habt ihr mir getan.“

 

Ostberlin 1923

Paul Schneider hatte das Zweite Theologische Examen abgelegt.

Nach dem abgeschiedenen Jahr im Predigerseminar Soest

trat er die Flucht nach vorn an: Babylon Berlin!

Er wollte pastorale Arbeit angesichts des Elends der Arbeitermassen erfahren.

Ein Gemeindepraktikum der besonderen Art bei der Stadtmission.

Zitat des 26 jährigen: „Christus baut das Reich Gottes ja ebenfalls

außerhalb der Kirchenmauern.“

Beide Pfarrer-Väter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen.

Paul Schneider setzte sich ein knappes Jahr lang

der Hinterhof-Misere von Arbeitslosigkeit und Alkoholismus aus.

Oft fehlten ihm die Worte.

Diener der Ärmsten war er viel stärker als Zeuge des Evangeliums.

 

„Aber Christus spricht ja auch: Was ihr getan habt

einem meiner geringsten Brüder und Schwestern, das habt ihr mir getan.“

 

Hochelheim 1926

Nach diesen – wohl notwendigen! - Umwegen wurde Paul Schneider

tatsächlich Pfarrer, am Ende auch das aus Not und Barmherzigkeit!

Der eigene Vater wurde krank, brauchte Hilfe und starb schließlich.

Paul Schneider beerbte ihn im Amt, heiratete seine Gretel

und stürzte sich in die pastorale Arbeit.

Seine Synode beauftragte ihn mit der Betreuung der Fürsorgezöglinge.

Auf seinem Motorrad folgte er ihnen in jedes Milieu.

Mehrfach brachte er Wohnsitzlose mit nach Hause.

Originalton: „Es ist ein Wort so recht für unsere Tage,

dass der rechte Sozialismus nicht auf der Straße sondern in der Familie anfange.“

Einmal – Gretel hatte die Kammer für ein ausgehungertes Paar gerichtet –

meinte sie zu Paul: „Ich glaube, sie sind gar nicht verheiratet.“ -

„Wahrscheinlich sind sie es nicht.

Als ich sie am Wegrand fand, waren sie erschöpft, hungrig und schmutzig.

Die Frage, ob sie verheiratet sind, ist mir im Traum nicht eingefallen.

Und jetzt, wo sie im Pfarrhaus leben, fragen wir am besten nicht!“

Das, liebe Gemeinde aus dem Mund dessen, der eine sehr strenge Moral hatte und

Schwangeren eine schöne Hochzeit verwehrte.

Jeder Mensch hat zwei Seiten. Mindestens.

 

„Christus spricht: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Geschwister,

das habt ihr mir getan.“

 

Dickenschied 1935

Ein strahlender Sommer – mitten im Kirchenkampf,

eine herrliche Natur – mitten in den Auseinandersetzungen mit den Nazis.

Seit Mai 1934 ist Paul Schneider Pfarrer von Dickenschied und Womrath,

zwangsversetzter Pfarrer:

eine berufliche Existenz zwischen Angriff und Verteidigung,

in ständiger Anspannung, in dauerndem Zeugenstand.

Ein Sommergast erzählt von einem Ausflug mit der Pfarrersfamilie:

„Paul Schneider war wie ein Mensch, der weiß,

dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben sollte.

Immer stiegen Flammen aus einer verborgenen Glut auf.

Am Waldesrand lagen Zigeuner um ein glimmendes Feuer gekauert.

Paul Schneider setzte sich zu ihnen, er musste ihnen von dem reden,

was ihm Sinn seines Lebens war.

Er tat dieses ganz schlicht ohne jedes Pathos.“

 

„Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,

das habt ihr mir getan.“

 

Buchenwald 1939

Die letzte Station für den Prediger und Pastor. Letzteres blieb er auch dort.

Mithäftlinge haben später berichtet, wie er sein Brot den Schwächeren gab

und wie er den Erschöpften Arbeit abnahm. Und auch noch dies:

Nach dem 9. November 1938 – Paul Schneider saß bereits im Bunker in Einzelhaft -

kamen Tausende jüdischer Männer nach Buchenwald.

Vor seinem Zellenfenster wurden sie brutal malträtiert.

Paul Schneider protestierte laut. Da stieß man ihm einen jungen Juden in die Zelle,

der über allem wahnsinnig geworden war.

Paul Schneider wandte sich ihm tröstend zu, bis der Jude von der SS umgebracht wurde mit einer Spritze. „Mörder! Mörder!“, schrie Paul Schneider heraus.

 

„Christus spricht: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder,

das habt ihr mir getan.“

 

Liebe Gemeinde, ich bin froh, dass der Wochenspruch mich zu einem neuen Blick auf Paul Schneider geführt hat.

Ich sehe es so: Ehe er Zeuge für das Evangelium wurde,war er längst Diener der Ärmsten und blieb das auch. Unbewusst barmherzig.

Er hatte Herz und Hand für die, die den Nazis dann ein Dorn im Auge waren:

die Sozialisten, die Arbeiter, die Wohnsitzlosen, Sinti und Roma

und nicht zuletzt die Juden.

Paul Schneider lebte eine Kirche für andere.

Er drückte das nicht so geschliffen aus wie sein Bewunderer Dietrich Bonhoeffer

(der hatte auch viel länger studieren dürfen),

aber er lebte das. Und damit bleibt er uns ein Vorbild.

 

Jeder Mensch hat zwei Seiten und jede Kirchengemeinde auch -

eine Innen- und eine Außenseite, Zeugnis und Dienst.

Ich bin froh, dass neben der Matthiaskirche nun das Paul Schneider Haus stehen wird,

dass wir neben dem schönen Ort für Gottesdienste und Konzerte

eine praktische Herberge für Diakonie und Gemeinschaft haben.

Das Paul Schneider Haus – so soll das Gemeindezentrum ab heute heißen -

erinnert uns daran, dass wir nur Kirche Jesu Christi sind,

wenn wir eine diakonische Kirche sind, weit offen für andere.

 

 

Bad Sobernheim, 10. September 2022, Ulrike Scholtheis-Wenzel

 

Zurück