Gedanken zum Erntedankgottesdienst

Predigt zu Deuteronomium (5. Buch Mose) 8, 7-18

Dankbar sein – ein gesundes Gefühl!
Vergangene Woche wurde ich aufmerksam auf einen swr2-podcast der Wissenschaftsredaktion Psychologie:
Dankbar sein – ein gutes Gefühl! Eine positive Lebenskraft in Krisenzeiten.

Ich hörte von der Dankbarkeitsforschung an US-amerikanischen Universitäten, Fachbereich Positive Psychologie.
Ich lernte das 6-Minuten-Tagebuch des Unternehmers Dominik Spenst kennen, das schon mehr als 1,5 Mio mal verkauft wurde.
Ich erfuhr von einer Masterarbeit mit digitalem Dankbarkeitstraining.
Ergebnis der durchaus repräsentativen Studie:

Dankbarkeit kann man trainieren, üben.
Dankbarkeit macht auf Dauer widerstandsfähiger gegen Sorgen-Strudel und Grübel-Kreise
Dankbarkeit setzt neue Energie frei.

Ein neuer Gedanke? -  Für Christinnen und Christen eher ein uralter!

Dankbarkeit üben, trainieren, ist das Thema des Deuternonomiums, des 5. Buchs Mose.
Und da findet sich der Predigttext des diesjährigen Erntedankfestes:

„Wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du dem HERRN, deinem Gott, danken für das gute Land, das er dir gegeben hat.“ (Dt, 8, 10)

 

Das Deuternonomium ist ein pädagogisches Buch.
An der Schwelle zum verheißenen Land hält Mose eine letzte große Rede.
Das ist die literarische Idee.
Mose wendet sich an die Nachgeborenen, an die unter 40 Jährigen, die erst in der Wüste zur Welt kamen.
Er vergegenwärtigt für sie die Befreiung aus der Sklaverei und die Bewahrung in der Wüste.
Er bindet sie ein in die Geschichte ihres Volkes und macht sie zu ihrer eigenen:
Vergesst nicht, woher ihr kommt! Vergesst nicht die Dankbarkeit!
An jeden einzelnen wendet sich Mose und sagt: Ich lege dir Segen und Fluch vor.
Du bist verantwortlich für deine Zukunft.
Deine Dankbarkeit soll einer gerechten Gesellschaft dienen.

 

Israel hat das 5. Buch Mose nie als historisches Dokument gelesen,
sondern stets als neue Vergegenwärtigung. In jeder Generation wieder neu.
Das wichtigste Wort in diesem Zusammenhang führt Mose selbst im Deuternonomium ein:

Heute! Erinnere dich heute!

Wo kommst du her? Aus welchem Mangel? Aus welchem Überfluss?
Welcher Gefahr bist du entronnen? Welche Durststrecken hast du überstanden?
Erinnere dich!

Und deine Dankbarkeit Gott gegenüber wird dich auf deine Zukunft vorbereiten. Heute!

 

Heute. 2. Oktober 22.
Wo komme ich her? Welcher Gefahr bin ich entronnen?
In welcher Wüste wurde ich bewahrt? - Es gilt nur eine persönliche Antwort:

„Gott, ich danke dir heute, dass du mich durch Krankheit und Quarantäne gebracht hast, unversehrt, denke ich.
Ich danke dir für den Ehemann an meiner Seite, die Kinder und das allerliebste Kindeskind. Was wäre ich ohne sie!
Ich danke dir für meine Arbeit, die so unendlich viel mehr ist als Broterwerb,
für die fantastischen Mitarbeitenden in dieser Gemeinde,
für den Gottesdienst in dieser prächtigen Kirche.

Ich danke dir, dass ich in diesem demokratischen Land leben darf.
Es ist so viel besser als sein Ruf.
Ich danke dir für Frieden und Sicherheit hier und für die zauberhafte Natur.
Schenke mir noch lange den guten Mut, nach deinem Willen für andere da zu sein.“

Dankbarkeit üben – dazu hält uns dies Fest gemeinsam an,
zeitlich etwa parallel zu Sukkot, dem jüdischen Erntedank im Herbst.
Dankbarkeit üben – das lässt sich doppelt lesen:

Einmal als „Dankbarkeit einüben“, als das sich Erinnern im Sinne einer faireren Realitätsbetrachtung. Wofür Gott ausdrücklich zu loben wäre.
Und dann als „Dankbarkeit ausüben“. Das Deuteronomium ist überzeugt,
einer dankbaren Lebenshaltung entspringt eine gerechte Lebensführung.

Klammer auf: Das hat der Heidelberger Katechismus in seinem pädagogischen Dreischritt ausdrücklich aufgenommen.
Von des Menschen Elend – Von des Menschen Erlösung –Von des Menschen Dankbarkeit!
Die Dankbarkeit ist die Grundlegung seiner Ethik.
Unter diesem Abschnitt entfaltet er die zehn Gebote. Einige erinnern sich vielleicht.
Gute Werke kommen evangelischerseits nicht aus einer furchtsamen gedrängten Seele sondern aus einem dankbaren Herzen. Ohne jede Berechnung. Klammer zu.

Oder besser noch einmal: Klammer auf!
Denn die unbewusste Berechnung bleibt ein kritischer Punkt, sagt nicht nur die reformatorische Theologie sondern auch die Dankbarkeitsforschung.

Ich komme noch einmal zurück auf den swr2-podcast.
Die Uni Darmstadt untersuchte in einer soziologischen Langzeitstudie Beziehungen zwischen Geflüchteten und Ehrenamtlichen im ländlichen Raum. Also bei uns.
Dabei stellte sie fest, dass Beziehungen am Dankbarkeitsstress zerbrechen können.
Wenn eine sehr viel gibt – zum Beispiel eigenen Wohnraum für ukrainische Kriegsflüchtlinge – oder wenn einer sich mit Haut und Haar in ein Fallmanagement hineinkniet, erwartet er womöglich adäquaten Dank.
Den kann der Geflüchtete aber gar nicht geben in seiner anhaltenden Not.
Es folgen Dankbarkeitsstress und Enttäuschung auf beiden Seiten.
Günstiger verlaufen Beziehungen dann – so die Studie – wenn Ehrenamtliche sich als Teil einer Dankbarkeitskette verstehen und sich nicht so stark von persönlichem Feedback abhängig machen.

Dann ist Dankbarkeit wirklich ein gesundes Gefühl, eine durch lange Übung erworbene Konstitution.
Die Positive Psychologie spricht von dankbaren Persönlichkeiten, die Krisen besser bestehen als andere.

Mose und die reformatorische Theologie unterstreichen das für uns.

Dankbarkeit kann man üben, trainieren. Sie führt zu einem Leben voller Verantwortung.

 

Ulrike Scholtheis-Wenzel

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