
Evang. PAUL-SCHNEIDER-GEMEINDE
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„Dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt“
Gedanken zu Römer 8 am 11. November 2023
„Dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt,
ist der Inbegriff des Christseins.
Das allein. Nicht Moral. Schon gar nicht Politik. Allein das:
dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt.“
Ich war eingeladen zu Yogi-Tee und Nuss-Konfekt.
Eine sehr sympathische Frau erklärte mir ihren Kirchenaustritt.
Christsein bedeute,
dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt.
Und dann kritisierte sie, die evangelische Kirche
sei viel zu politisch und unerträglich moralisch geworden.
Sie sehe das schon eine ganze Zeit, doch der Gipfel sei für sie die Abschlusspredigt
des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Nürnberg gewesen,
dieses queere Plädoyer für Klimagerechtigkeit.
Wir redeten noch lange -
Dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt -
Schrieb das nicht schon Paulus?
In dieser Woche schlug ich den Römerbrief auf,
genau in der Mitte, beim heutigen Predigttext: Römer 8.
Das Kapitel hat drei Abschnitte.
Erstens:
Wer getauft ist, ist ein freier Mensch geworden,
in dem gewinnt Christus Gestalt.
Das klingt sehr fremd und theologisch,
aber der Apostel mutet uns diesen Gedanken zu.
Wer getauft ist, in dem gewinnt Christus Gestalt,
sein Leben, sein Leiden und seine Auferstehung – das ganze Heil.
Wer getauft ist, steht unter dem Einfluss des Geistes Gottes,
in dem gewinnt die Freiheit Gestalt – ja, allerdings! - ,
eine große Unabhängigkeit von den Zwängen und Bindungen der Welt,
eine heilsame Distanz gegenüber äußeren und fremden Erwartungen.
„Das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus,
hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“
Paulus. Römer 8. Sehr fremd, sehr theologisch, aber auch unglaublich schön:
Wer getauft ist, in dem gewinnt Christus Gestalt, Freiheit und Frieden.
Meine Gesprächspartnerin zog ein Buch aus dem Regal: „Glauben in Freiheit“.
Aha. Ich nickte: Eugen Drewermann, der katholische Theologe und Therapeut.
Mein Gegenüber war begeistert.
Das Buch war eine Empfehlung ihres eigenen Therapeuten.
„Drewermann interessiert sich nicht mehr für Kirche und Dogmatik“, erzählte sie,
„An seinem 65 Geburtstag ist er ausgetreten. Aus der katholischen Kirche.
Drewermann sagt: Ein Mensch erlangt sein Heil nur dadurch,
dass er im Innern seiner Seele sich selbst findet und nur so auch Gott.
Er deutet Bibeltexte tiefenpsychologisch, nicht dogmatisch.
Das überzeugt mich. Ich bin jetzt religiöser als zuvor.“
Ja, das habe ich schon mehrmals gehört.
Und doch konnte ich die Begeisterung meines Gegenübers nicht teilen.
Christsein als Solo für die Seele? Wo bleibt da die Welt?
Zurück zum Römerbrief. Kapitel 8. Das ist meine Spur.
Und ich komme zum zweiten Absatz, den Predigtversen.
Wer getauft ist, ist verbunden mit aller Welt, mit der ganzen Schöpfung.
Von wegen Solo für die Seele.
„Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf,
dass die Kinder Gottes offenbar werden.“
Schwere Worte, Paulus! Ich versuche es leichter:
Die ganze Schöpfung leidet, Mensch und Tier und Pflanzen.
Das erleben wir dauernd und drängend und staunen eher,
dass Paulus das schon so sah.
Die ganze Schöpfung leidet. Sie leidet mit uns und unter uns.
Und frei werden wir nur gemeinsam.
„Ja, auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit
zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“
Die Schöpfung leidet und wartet darauf, dass wir uns als Christen zeigen,
dass wir uns rücksichtsvoll verhalten.
Sie wartet auf uns – lese ich im Römerbrief.
Liebe Gemeinde, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,
wie wir unserer Taufe treu bleiben, ohne hier aktiv zu werden.
Die Kritik, die evangelische Kirche sei zu moralisch, zu politisch,
höre ich immer wieder.
Im vergangenen Kirchenjahr sind 42 Mitglieder
aus der Evangelischen Paul-Schneider-Gemeinde ausgetreten.
Die allermeisten sagen uns nicht, warum, oder machen ein Kreuz bei „finanzielle Gründe“.
Einige aber, die mit uns reden – Gott sein Dank! - sagen genau das:
zu moralisch, zu politisch und dass sie Gott nun näher seien als in der Kirche.
Mit Gottes Wort und der Verkündigung seiner Propheten halte ich dagegen:
Die Welt wartet auf uns, die ganze Schöpfung.
Christsein ist kein Solo für die Seele, sondern braucht eine soziale Gestalt.
Bei aller Kritikwürdigkeit der Kirche – ich weiß, warum ich dazu gehöre!
Es ist wichtig, es ist richtig,
dass die Freiheit in einem Menschen Gestalt gewinnt.
Das nehme ich sehr ernst. Ich bin evangelisch.
Es ist um Christi willen wichtig, dass sich die Angstknäuel in seiner Seele entwirren
und der Mensch lernt, aufrecht zu gehen.
Aber ich glaube, die Flucht ins Innere der Seele
heraus aus den Krisen und Katastrophen dieser Zeit, kann nicht gelingen.
Freiheit ohne Weltverantwortung hat mit Christus wenig zu tun.
Seine Freiheit setzte er dieser fragwürdigen Welt aus.
Zuletzt: Römer 8, Abschnitt 3:
ein Hymnus auf Gottes unverbrüchliche Liebe. Viele kennen ihn:
„ Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Himmel noch Mächte noch Gewalten…
(und auch kein Kirchenaustritt!)
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“
Liebe Gemeinde, für mich ist das der Vorbehalt der Barmherzigkeit.
Wer wüsste besser als wir Kirchenleute,
dass wir uns oft viel zu viel vornehmen mit unserem christlichen Leben.
Wer wüsste besser, dass wir immer Fehleinschätzungen treffen, Fehler machen.
Wir haben ein realitätsnahes Sündenbewusstsein.
Und sind gewiss: Von unseren Fehlern lässt Gott sich ebenso wenig irritieren
wie von unseren vermeintlichen Guttaten.
Er rettet die Welt und unsere Seele. Niemals wir selbst.
Und so lebe ich vorläufig froh als fragwürdige Gestalt in Christi Kirche.
Am Ende, am Ende aller Zeiten,
wird Gott uns doch alle zusammenführen – Christen in und außerhalb der Kirchen -
und wir werden die Freiheit gemeinsam feiern.
Ulrike Scholtheis-Wenzel
